Warum? In ihren Augen steht Ratlosigkeit. Warum? Warum sollte man hintereinander knapp 4km schwimmen, 180km Rad fahren und dann noch 42.2km laufen? Ich komme gerade von der Challenge Roth zurück, dem Mekka der Triathlon-Langdistanzler. Ja, warum? Die Antwort ist mir völlig klar. Aber wie klar ist sie wirklich...?
Ein Rennbericht von der Challenge Roth, 3. Juli 2022 – in Vorbereitung für „Cap to Kap“
Prolog
Mit verbissenem, verhärmtem Ausdruck im Gesicht taumelt ein Mann an mir vorbei. Der Schweiß steht ihm im Gesicht, bildet sich auf den nackten Schultern und rinnt die Arme hinab. In einer Woche werde ich möglicherweise genauso aussehen, mich womöglich ähnlich fühlen.
Ich bin beim Ironman Frankfurt, der am letzten Sonntag im Juni 2022 in und um die Stadt stattfindet, diesmal allerdings bin ich auf der Unterstützer-Seite. Nach einem Start im letzten Jahr bin ich in diesem Jahr an der Laufstrecke, um gemeinsam mit weiteren Freiwilligen Getränke an die Athleten auszugeben. In den meisten Blicken ist zu dieser Uhrzeit pure Konzentration zu lesen. Fokussiertheit. Schmerz. Bei einigen wenigen: Freude. Bei den meisten: Leiden. Neben mir übergibt sich ein Athlet in einen Mülleimer.
Ein jeder hier hat sich zum Ziel gesetzt, anzukommen. Anzukommen wo? Örtlich am Römer, wo eine Tribüne und Feststimmung wartet. Aber ist das das wahre Ziel? Natürlich nicht.
Das Schwimmen
Es ist bereits hell, als hunderte Triathleten nervös und angespannt in der Wechselzone am Rad wimmeln. Es ist der 3. Juli 2022 um halb 6 bei der „Challenge Roth“, dem Austragungsort des legendären Triathlon-Rennens. Auf einer kleinen Bühne werden Gebete für verschiedene Religionen vorgetragen. Die letzten Vorbereitungen am Rad, die Abgabe des letzten Beutels, bevor es zur festgelegten Startzeit an den Schwimmstart im Main-Donau-Kanal geht.
Dass dieser Tag gut endet, hoffen die meisten hier nur; zu wissen ist es nicht. Auch wenn dies für jeden Tag zutrifft, ist es heute besonders bewusst. Es muss viel zusammen kommen, dass dieser Tag zur Zufriedenheit verläuft. Es sind die Projektionen in diesen einen Tag, die ihn jetzt und hier schon besonders machen. Dieser Tag steht für etwas, und zwar nicht nur für einmal besonders lang schwimmen, Rad fahren und laufen. Dieser Tag steht für mehr. Ich versuche es zu greifen...
Der Startschuss fällt. Der Blick wandert ins Dunkle. Der Kopf dreht sich im Wasser, dreht sich zum Atmen heraus und sieht die Menschenmassen am Kanalufer, die im Morgenlicht winken und klatschen. Ich versuche, meinen Rythmus zu finden. Einen Rythmus, der im besten Fall dem eines anderen ähnlich ist. Der trägt für ein paar Kilometer, oder zumindest für eine Sektion. Es macht mir jetzt schon Freude, die Entwicklung dieser Dynamik über die Schwimmstrecke zu beobachten. Das Abwägen und das Umsetzen des Energieeinsatzes, die Beobachtung der Auswirkung eines festen Armzugs, das Aufschließen an oder Ziehenlassen von Mitschwimmern, das kleine Taktieren mit der eigenen Kraft. Und noch liegt so viel vor mir... Es ist keine Drohung, es ist mehr eine Verheißung.
Das Rad fahren
Das Rad gleitet über den Aspalt. Ich konzentriere mich auf die Straße. Nicht wackeln, nichts übersehen. Ein Tempo finden, das durchhaltbar ist. Obwohl die Stimmung trägt, der Körper frisch scheint, noch etwas Zurückhaltung üben, mit Kräften haushalten. Nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig. Der Tag wird lang.. Aber erst am Ende wird sich heraus stellen, ob die Rechnung aufging. 180 Kilometer liegen noch vor mir...
Ich denke daran, wie viele Menschen hier zusammen kommen, um diesen Tag gemeinsam zu verleben. Die Unterstützer, die es ermöglichen, dass die Menschen auf der Strecke ihr Ziel erreichen. In manchen Augen sehe ich ein Brennen, einen Respekt für die avisierte Leistung, ein Mitfühlen und Mitfiebern in einer außergewöhnlichen Anstrengung. In anderen Augen sehe ich das Vergnügen an überschwenglichem Fest und dem Ausbrechen aus dem Üblichen, hin in eine Besonderheit. Manchmal scheint es offensichtlich, wie austauschbar dieser Anlass ist. Jedoch, im einen wie im anderen Fall bin ich fasziniert davon, wie das Zusammenspiel funktioniert. Ein Zusammenspiel, das zu Höchstleistungen motiviert und Menschen zu außergewöhnlichen Zielen führt, die weiter führen, die Entwicklung vorantreibt, die sonst nie möglich wäre.
Hier ist es der Sport, aber es könnte alles andere sein; es wird für die Beteiligten auch anderes werden, durch diese Symbiose von Motivationen, die mir fast die Tränen in die Augen treibt.
An Verpflegungsstationen bieten Freiwillige Nahrung und Getränke an. Es tut gut, das Wasser während der Fahrt über den überhitzen Körper zu schütten. Ein herzliches und atemloses „Danke!“ beim Wegwerfen der Flasche wird mit einem enthusiastischen „Gerne!“ beantwortet. Es ist rührend. Meine Beine treten kraftvoll in die Pedale; ich steuere den Druck, den meine Muskeln auf die Straße bringen. Es ist schön, Kraft zu haben und sie nach Belieben einsetzen zu können. Dass das nicht so bleibt, ist mir klar, aber der Augenblick ist genießenswert.
Die Vorbereitung auf diesen Tag zieht an mir vorbei. Die machmal endlosen Trainingsstunden, aber auch und vor allem die abseits des Trainings. Motivation, Covid, Verletzungen, Umzug, berufliche Veränderungen, private Notfälle, Liebe. Dieser Tag strukturiert ein Teil des Lebens. Sowie das Training manchmal die Tage strukturiert. Dieser Tag ist eine Zäsur in der Zeit. Er hilft einzuordnen in ein Vorher und ein Nachher. Er ist eine Bestandsaufnahme von dem, was Kopf und Körper in diesem Augenblick zu leisten vermögen.
Die Beine werden schwer. Es wird wahnsinnig heiß. An einem einsamen Anstieg hat sich eine Familie eingerichtet, die unbeirrt mit Kochlöffeln mehr oder minder rythmisch auf Kochtöpfe schlägt und den Radfahrern Aufmunterungen zuschreit. Meine Füße brennen, ich möchte, dass das aufhört.
Das Laufen
Der Wechsel in die Laufschuhe läuft gut. Zwar sind die Zehen erst einige Kilometer taub, aber die Beine freuen sich, den Boden zu berühren und sich nicht nur drehen zu sollen. Ich weiß, bald werde ich Horst und meine Unterstützer an der Strecke wieder sehen. Laufen dahin muss ich allein. Aber allein bin ich nicht. Der Gedanke daran trägt mich.
Die Strecke ist nicht mehr in Kilometer eingeteilt, sie besteht aus Wegpunkten. Oder aus dem Augenblick. Tempo halten – wenn das gelingt, gelingt das, was sich zu einem Plan formiert. Das mir mögliche leisten, aber weder zu viel wollen, noch zu wenig.
Einen Teil des Weges laufe ich mit einer Staffelläuferin. Wir haben das gleiche Tempo. Ich sehe meine Club-Kollegen, wir feuern uns gegenseitig an. Bei Kilometer 32 geht es nochmal bergauf, das es schmerzt. An dieser Stelle werden die Unterhaltungen bei denen, die laufen, kürzer. Die, die gehen, erklären sich die Lage oder finden in Erzählungen über ganz anderes die wohlersehnte Ablenkung. Eine Komplizität stellt sich ein, wie bei Läufern, die sich morgens um 7 Uhr allein im Wald treffen und unmerklich grüßen, vereint in der Situation, die ganz eigen ist. In gleichmäßigem Schritt bewege ich mich vorwärts.
Irgendwann werde ich meine Unterstützer wieder sehen. Und irgendwann werde ich auch ankommen. Wo? Örtlich im Stadion von Roth. Aber wo komme ich eigentlich an?
In Dankbarkeit und Demut. Für das, was möglich ist. Für den lebensbejahenden Esprit des Sports. Für das Aufgehen eines Planes, das Durchdringen von Schwierigkeiten. Für das Erlangen von Vertrauen. Für die Projektion in eine Zukunft, die gestaltbar ist – mit eigener und gemeinsamer Kraft. Und für das nicht Greifbare, was ich auch nach knapp 4km schwimmen, 180km Rad fahren und einem Marathon nicht fassen kann. Und mein Gegenüber mit dem fragenden "Warum?" im Blick möglicherweise auch nicht. Es macht aber nichts.
Ich freue mich jetzt schon darauf, weiter zu suchen...
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