Bike & Run nach Chartres
Updated: Apr 4, 2022
Ein Form- und Mentaltest sollte es werden. Ungefähr 100 Kilometer, an einem Wochenende im Bike&Run-Modus. Mit einem gotischen Prachtbau als Zwischenziel: Der Kathedrale von Chartres. Um 7:30 Uhr klingelt der Wecker...
Das hier sind die Augenblicke, die ich nicht vermisse. Gerade noch habe ich die Klamotten in die Satteltasche des MTB gestopft, die Ortlieb-Tasche vergurtet, die Kleinigkeiten in die Lenkertasche gequetscht, und eigentlich ist fast klar: Den angepeilten Zug können wir nur erwischen, wenn er zu spät ist. Wir sind es.
Aber alles ist besser als jetzt hier stillzustehen. Stillzustehen und den Gedanken nachzugehen, die gerade beginnen, sich wie eine Bürde auf die Schultern zu legen. 40 bis 50 Kilometer wollen wir pro Tag in Afrika zurücklegen. Jeden Tag, sechmal in der Woche. Dieses Wochenende soll nur ein Test werden: Wie steckt der Körper eine solche Belastung an zwei aneinanderfolgenden Tagen weg? Was macht der Kopf, und was die Moral? Wieviel Tag bleibt am Ende der Sporteinheit übrig, und vor allem wieviel Energie?
Wenig später sitzen wir frierend auf der Terasse der Bäckerei im Ort. Der Zug ist weg, wir überbrücken die Zeit zum Nächsten, der uns nach Rambouillet bringen soll. Ein paar ältere Damen haben sich zum Frühstück verabredet und unterhalten sich angeregt in der Wärme des Cafés. Wir schweigen. Wir könnten uns jetzt gemütlich auf ein Samstagsfrühstück vorbereiten, es wäre bequemer. Danach in eine Ausstellung gehen, vielleicht in ein Konzert. Stattdessen sitzen wir hier und frieren, die Finger sind schon taub. Der Wind beißt, und bis jetzt sind wir noch nicht einmal unterwegs. Warum? Genau in diesem Augenblick weiß ich, ich wäre nicht überzeugend würde mich jemand dies genau jetzt fragen. Aber ich weiß auch, es wird sich verändern. Mir wird es wieder einfallen, und ich werde auch wieder überzeugender sein. Denn im Grunde fühle ich die Antwort. Unbestimmt, vielfältig, und irgendwo ganz innen..
Horst beginnt zu laufen. Wir sind die einstündige Zugfahrt von Paris entfernt in der Provinzstadt Rambouillet gelandet, die allein dadurch zweifelhafte und geringe touristische Berühmtheit erlangt hat, dass Napoleon und Ludwig XVI. hier zwischenzeitlich kurz residiert haben. Uns hält hier nichts, ohne beziehbare Residenz schon gar nicht. Der Himmel ist blau, wir wollen raus.
Ich bin gespannt, wie sich der Tag entwickelt. Wie werden sich die Kilometer vor uns legen? Wann wird der Weg mühsam werden, und wann fällt uns möglicherweise Schönheit auf? Wann setzt Müdigkeit ein, und wie verändert sich die Gefühlswelt? Wann wird plötzlich alles leicht, und wann möglicherweise wirkt jeder Schritt nur zäh?
Schon sind die ersten 10 Kilometer wie verflogen. Der erste Wechsel liegt hinter uns. Horst ist auf dem Rad, ich laufe. Luft strömt ein in die Lunge, Luft strömt wieder aus. In der Kälte dieses Februarmorgens, laufend, fühle ich mich zurück geworfen auf das Essentielle. Ein Schritt vor den nächsten, so geht es vorwärts. Langsam aber beständig. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Links neben mir liegt jetzt die Domaine de Voisins, ein herrschaftlich anmutendes Bauwerk in Saint Hilarion, mit runden Türmen und der Verheißung einer angelegten Gartenanlage. Menschen bauen Schlösser, bauen Burgen, bauen Festen.
Warum? Was treibt sie an? Was hat sie genau hier angetrieben? Aus meinen Kopfhörern klingt jetzt die glänzende Trompete von Ibrahim Maalouf. Wie viele Mühen hat es Menschen gekostet, dass dieser Laut erklingen kann? Wie viel Suche war nötig, dieses Instrument, in dieser Form zu entwickeln, das Können, die Expertise für das Spiel? Wieviel Aufwand war von Nöten, wieviel körperliche Anstrengung, dass links neben mir nun diese ästhetisch anmutenden Schlosstürme des „Chateau des Voisins“ thronen können?[1] Die Beine werden jetzt leicht. Ich fühle mich, als könnte ich jetzt ewig weiter laufen. Das „Warum“, es ist wieder viel klarer.

Von Rambouillet aus geht es westwärts 20 Kilometer durch die Yvelinen. Dann trifft unser Weg auf die Eure, den Fluss, der dem gleichnamigen Departement, durch das es fließt, seinen Namen gibt. Höher im Norden mündet die Eure in der Seine, wir aber folgen dem Verlauf in Richtung Süden. Es soll unsere einzige 90 Grad Kurve werden, die wir an diesem Tag nehmen; der Rest der Strecke führt schnurstracks geradeaus, nur manchmal von leichten Kurven im Straßenverlauf oder durch einen Hügel unterbrochen.
Landschaftlich ist diese zweite Partie schöner, die Straßen schmaler und weniger befahren. Wir wechseln viermal nach jeder Stunde; jetzt geht es bergauf. Ganz frisch sind die Beine nicht mehr, die Gedanken streifen. Ich sehe Horsts Silhouette vor mir auf dem Rad. Und plötzlich, über der Bergkuppe, zeigen sich vor uns die beiden mächtigen Türme der Kathedrale von Chartres. Von weit her zu sehen. Erhaben. In der Mitte von Nichts.
Dort wird unser Ziel sein.

Mit der Kathedrale vor Augen vergehen die letzten Kilometer, bis wir vor ihr stehen. Bekannt ist die „Notre Dame“ für ihre exemplarische gotische Bauweise. Die Fenster sind größtenteils unzerstört; es ist rar, sie im Originalzustand vorzufinden. Beim Betreten der Kirche läuft mir ein Schauer durch den Körper. Es riecht nach Weihrauch, die Gewölbe hoch über meinem Kopf protzen mit ihrer Stabilität und Eleganz. Hier wollte gezeigt werden, was Baukunst kann. Sie zeigt es.
Die Sonne steht tief und die Dämmerung legt sich über die Stadt. Für uns ist es Zeit, Quartier im Hotel zu beziehen. Wir wollten uns zeigen, dass wir 40 – 50 Kilometer am Tag zurücklegen können. Wir haben es uns gezeigt.
Morgen liegt eine zweite Etappe vor uns. Irgendwo bauen Menschen Türme. Warum? Fast ist es mir, als fühlte ich die Antwort. Unbestimmt, facettenreich, und irgendwo ganz innen...
Die Strava-Daten:
Tag 1 - Rambouillet- Chartres: Viele lange Geraden, und die Attraktion des Tages: eine Linkskurve

Tag 2 – Chartres - Rambouillet: Landschaftlich etwas schöner, dafür windanfällig und steigungsstärker (350HM)

[1] Im „Chateau des Voisins“ trafen sich zur Ende des 2. WK politische Machthaber zu Gesprächen. Quelle: https://fr.wikipedia.org/wiki/Ch%C3%A2teau_de_Voisins_(Saint-Hilarion)